Album „Rio Amden Amsterdam“

„Ich fang noch einmal an / Ich weiss, dass ich das kann / Irgendwo zwischen Rio Amden und Amsterdam“, singt Michael von der Heide in „Tag aus Papier“ zu einem leichten Bossa Nova-Groove. Die Zeichen stehen auf Aufbruch. Das nunmehr zwölfte Album „Rio Amden Amsterdam“ ist zwar kein gänzlicher Neustart, aber dennoch ein Ausflug in neue Gefilde. Unter der Ägide des Erfolgsproduzenten Thomas Fessler (Sina, Adrian Stern, Nickless) erfüllte sich Michael von der Heide einen lange gehegten Wunsch und spielte mit einer Schar exzellenter Jazzmusiker (unter anderem Marvin Trummer, André Pousaz, Maxime Paratte, Lukas Thoeni, Antonello Messina) und dem Kaleidoscope String Quartet ein zauberhaftes, dreisprachiges Herbstalbum ein, das flink zwischen Chanson, Jazz und Pop oszilliert.

Neu im musikalischen Kosmos von Michael von der Heide ist auch die Luzerner Sängerin und Multiinstrumentalistin Heidi Happy, die letzthin bereits Alben von Yello und Stephan Eicher veredelte und nun zum ersten Mal für einen anderen Künstler Texte vertonte. Die beiden lernten sich vor zehn Jahren kennen, als sie als Gäste mit dem Swiss Jazz Orchestra auf Tour waren und freundeten sich alsbald an. Das Resultat dieser Freundschaft sind neben „Tag aus Papier“ das Lied „Kurz vor acht“ – in dem wir eine nachdenkliche Sängerin durch einen Abend begleiten, bis ihr Lied vom Wind über den See getragen wird, während dazu eine dezente Trompete und sanfte Streicher melancholisch aufspielen – und das Duett „Abschied von der Nacht“. Dieser perfekte Song für die blaue Stunde erzählt, wie zwei bis anhin unentschiedene, ungebundene, das ungewisse Ziel liebende Seelen von einem Ich und Du zu einem Wir zusammenfinden, so dass sich zum Schluss auch ihre Stimmen warm umgarnen.

Das zweite Duett auf dem Album ist gleichzeitig die erste Single und eine Wiederbegegnung: Die Westschweizer Sängerin und Pianistin Daniela Simmons, wie Michael von der Heide ESC-erprobt (2. Platz mit dem Lied „Pas pour moi“ 1986 in Bergen), schrieb für ihn bereits den Text zu „Prière“ auf dem Erfolgsalbum „30° “. Nun sind sie erstmals gemeinsam im leicht angejazzten Pop-Chanson „Ce soir“ zu hören, das davon handelt, immer wieder an die Liebe zu glauben, obwohl man sie noch nicht gefunden hat
und in dem sich beide Stimmen zum Tanz auf den Dächern des sehnsüchtig erträumten siebten Himmels vereinen. Marcel Wild wiederum, der auch den von der Heide-Klassiker „Hinderem Berg“ mitkomponierte, erschuf für das neue Album „Tüüf underem Schnee“. Zu den Klängen einer Kirmes-Orgel singt von der Heide von einem kleinen blauen Veilchen, das noch tief unter dem Schnee vergraben ist, sich aber bereits darauf vorbereitet, im Frühling die Welt etwas schöner und bunter zu machen. Ein Volkslied im besten Sinne und hätte es dieses Walzerli damals schon gegeben, wäre es wohl eines jener Lieder gewesen, die Michael von der Heide jeweils als Kind im heimatlichen Amden hoch über dem Walensee den zu Besuch weilenden Touristen vorgesungen hat. Vom 11-jährigen Michael und den Stationen auf dem Weg in die grosse weite Welt des Showbusiness handelt schliesslich das augenzwinkernde „Zuhause konnte ich es noch“, dessen Text der ehemalige Baby Jail- und Schtärneföifi-Frontmann Boni Koller verfasste.

Nahtlos betten sich zwischen die neuen Songs einige mit Sorgfalt ausgewählte Coverversionen: Der norwegische Posaunist und Arrangeur Øyvind Braekke steckte Juliane Werdings mysteriöses „Eiskalter Sommer“, in dem Träume an eine längst vergangene Tragödie aufblitzen, die immer noch wie ein Schatten über einer Stadt am Rande eines Vulkans liegt, in ein feuriges Swing-Jazz-Arrangement. „Träume erfrieren, wenn niemand da ist, der sie träumen will“ sang Rio Reiser 1985 in dem für die Tatort-Folge „Im Herzen Eiszeit“ komponierten „Träume“. Es ist eine nachdenkliche Betrachtung über die Flüchtigkeit der Momente und all das, was längst verschwunden und überwunden ist. In Michael von der Heides Version ist das Lied, von den krachenden Gitarren des Originals befreit, in ein feines Streicherarrangement verpackt und ganz auf den starken Text fokussiert. Wie Rio Reisers Lieder waren auch jene von Boris Vian vom Pazifismus geprägt. In dem zur aktuellen Weltsituation passenden „S’il pleuvait des larmes“ bedeckt eine Flut an bitteren Tränen sintflutartig die Welt, zum Gedenken an den Tod einer Liebe, eines Kindes oder der im Krieg gefallenen reinen Herzen, musikalisch akzentuiert von einem klagenden Akkordeon. Und in „Il est mort le soleil“, das die französische Chansonsängerin Nicoletta und anschliessend Ray Charles, der Hohepriester des Soul, einst in die Welt hinaustrugen, spielen wie in vielen der auf dem Album versammelten Lieder sowohl das Wetter als auch die Gefühle verrückt.

In Hildegard Knefs Klassiker „In dieser Stadt“ singt Michael von der Heide schliesslich von der Sehnsucht, wegzugehen in die grosse weite Welt und gleichzeitig vom Heimweh, das in der Ferne lauert. Aus der Ferne, jenseits der Meere, kommt auch der grosse Junge mit den charmanten und mysteriösen Augen, der in „Étrange garçon“ besungen wird. Michael von der Heide kehrt mit dieser spartanisch instrumentierten, auf Piano und Stimme fokussierten französischen Adaption von Eden Ahbez’ Welthit, mit dem einst Nat King Cole seine internationale Karriere startete, sozusagen zu den Anfängen seiner Karriere zurück. Und fügt dieser mit „Rio Amden Amsterdam“ ein Album hinzu, das Aufbruch und Rückbesinnung gleichzeitig ist und so zeitlos wirkt, dass man getrost sagen kann: Auch wenn in den Songs wie im Leben die Stürme toben mögen, sei es wetter- oder gefühlsmässig, dieses abwechslungsreiche Album wird alle Stürme überdauern.