Album “Disappear In Time”

Jung, laut und unglaublich kraftvoll: Brainholz ist eine dieser wenigen Rockbands, die einen gleich mit dem ersten Ton fesseln. Und von denen man sich wünscht, sie würden nie verschwinden.

Auch wenn ihr zweites Album den Titel “Disappear in Time” trägt: Wenn man Brainholz mal gehört hat, wünscht man sich, dass die Band nie mehr verschwinden möge. Von den Konzertbühnen, aus den schmerzenden Gliedern nach einer energiegeladenen Liveshow, aus den Gehörgängen, aus dem Herz, aus der Seele. Überall dort nistet sich der gewaltige und imposante Sound der vier Berner nämlich ein, sobald man sich mal auf sie eingelassen hat. Da wird sehr wohl abgeholzt – mit aller Kraft. Aber eben auch mit Hirn.

Verlieren wir zunächst ein paar Worte über das Etikett, das sich Remo Schüpbach (Lead Vocals), Patrick Tschäppät (Guitar) Basil Jensen (Bass, Leslie) und Steven Aebischer (Drums, Percussion) selber umgehängt haben: Retro-Rock. Wer “Retro-Rock” hört, denkt bisweilen an die späten 60er oder die frühen 70er des letzten Jahrhunderts, an opulente Arrangements, Anklänge von Psychedelik und einen Hang zu endlosem Ausufern.

Mag sein, dass diese Attribute auf Brainholz auch zutreffen. Gerade mit Blick auf Song-Längen von 6:47min (“Lost in Between”, das tatsächlich zwischen Zeiten und Epochen umher zu irren scheint) oder gar 9:19min (“The King of The Orange Mountain”, diese episch dystopische Hymne, auf die sogar Jim Morrison stolz wäre). Aber es gibt eben auch Tracks wie “For Today” oder “Vote For Me” (Politik wunderbar bösartig kommentiert), die mit weniger al 3:50min sogar auf eine aufmerksamkeitsspannenverträgliche Kürze kommen. Von radiotauglich wollen wir bei einer echten Rockband im Jahr 2023 jetzt mal nicht schreiben. Zumindest nicht in erster Linie.

Aber anyway – zurück zum Retro-Rock: Gerade bei gestandenen Altrockern geht oft vergessen, dass die Sparte Rock nun doch auch schon ein paar Jahrzehnte auf dem Buckel hat. Ja, auch Keith Richards und Mick Jagger, Gründerväter nicht nur der Rolling Stones, sondern eben auch des Rock, sind oder werden demnächst 80. Oder andersrum betrachtet: Auch jene Ausprägungen des Rock, die in den 1990er-Jahren mit Epizentrum Seatle die Grundfesten der Musik-Welt erschüttert haben und in den Augen eben dieser Altrocker immer noch als modern gilt, hat heute gut und gerne 30 Lenze auf dem Buckel. Oder ist retro in den Augen der jungen Wilden, die heute Hand anlegen an Gitarre, Bass und Schlagzeug.

Kurzum: Wenn wir’s genau nehmen, ist jeder Rock, der heute gespielt wird, Retro-Rock. Und Brainholz damit eine Allerwelts-Band? Weit gefehlt! Denn was Brainholz auf “Disappear In Time” beiten ist weit mehr als eine musikalische Zeitreise zwischen angestaubter Nostalgie und konturloser Moderne. Brainholz verdichten den Rock in all seinen Ausprägungen – Rock’n’Roll, Glam-Rock, Hardrock, Alternative Rock, Punk oder Grunge – zu einem Sound, der so an allen Ecken und Enden mit Anklängen der einzigartigen Geschichte dieses grössten aller Musikstile spielt. Und trotzdem – oder gerade deshalb – eine Kraft und Energie entwickelt, die in diesen musikalisch weichgespülten Zeiten, in denen wir heute leben, ihresgleichen sucht. Direkt, kantig, rumpelnd. Brainholz zelebrieren auf “Disappear in Time” das Leben in all seinen Facetten zelebriert: Mal leise, mal laut – mal episch, mal knackig – bisweilen nachdenklich, meist Vollgas.